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Prävention mit Weitblick

Stress ist nachweislich eng mit Erkrankungen verbunden. Dr. Anne Collisi und Julia Hodgson-Kastien zeigen auf, wieso es sich lohnt, die Stressverarbeitung geschlechtsspezifisch zu betrachten.

Prävention 4.0

Psychische Belastung

Dr. Anne Collisi und Julia Hodgson-Kastien betrachten im Auftrag der Deutschen Bahn das Thema Stress mit Blick auf Geschlecht und Gender. Sie geben einen kleinen Einblick in die Praxis geschlechtersensibler Prävention.

Dr. Anne Collisi: Unterschiede kennen und für sich nutzen

Stress ist per se erst mal nichts Negatives, sondern negativ konnotiert. Er befähigt den Körper, auf bedrohliche Situationen mit einem geeigneten Reaktionsmuster zu reagieren und schnell vitale Erhaltungsvorgänge zu aktivieren. Diese sorgen für die gezielte Aktivierung verschiedener Strukturen des Gehirns, der Hormonausschüttung und des autonomen Nervensystems. Krank macht Stress erst dann, wenn diese Abläufe nicht in Balance sind. Das geschieht oftmals durch ein Übermaß an Stress beziehungsweise den nicht-adaptiven Umgang damit. Wir wissen aber auch, dass es bei Stress und stressinduzierten Erkrankungen Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass es nicht „das weibliche Gehirn“ und „das männliche Gehirn“ gibt. Unser Ziel ist es, in Unternehmen für das Thema geschlechts- und genderabhängige Unterschiede zu sensilibisieren und sie somit in die Lage zu versetzen, besser reagieren zu können. Denn Stress hat nicht nur individuelle gesundheitliche Folgen, sondern wirkt sich direkt auf die wirtschaftlichen Leistungen eines Unternehmens aus. Das Wissen um die Unterschiede ist schon der erste Schritt, um eine andere Bewertung vorzunehmen.

Das noch junge Fach der Gendermedizin beschäftigt sich mit biologischen Unterschieden, die durch die Geschlechtschromosomen und Hormonkonstellationen vorgegeben werden. Auf der anderen Seite schauen wir auf Gender, das sogenannte soziokulturelle Geschlecht. Eine Prävention, die heute personalisiert, lebensphasenspezifisch und geschlechtersensibel sein muss, berücksichtigt diese Erkenntnisse.

Portrait Dr. Anne-Kathrin Collisi

Das Wissen um die Unterschiede ist schon der erste Schritt.

Dr. Anne Collisi

Internistin mit Schwerpunkt Präventiv- und Gendermedizin

Große Belastung*

  • Eine Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Belastungen und Erkrankungen dauert im Durchschnitt 27 Tage
  • 18 Prozent Krankschreibungen – deutlicher Anstieg der Langzeit-Erkrankten
  • Besonders hohe Belastung: Frauen und die „Sandwich“- Generation (36–45 Jahre)
  • Mehr als 60 Prozent der Deutschen fühlen sich gestresst
  • Diagnosen psychischer Belastungen haben sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt und stehen an zweiter Stelle der Gründe für Arbeitsunfähigkeit

* TK-Gesundheitsreport 2021; TK-Stresstudie 2021 „Entspann dich, Deutschland“; Deutsche Rentenversicherung 2019

Julia Hodgson-Kastien: Impulse für neue Betrachtungen

Zu einer ganzheitlichen Betrachtung gesundheitsrelevanter Phänomene, zu denen Stress gehört, zählen neben individuellen Faktoren, wie der genetischen Disposition, auch Lebensphase und Geschlecht. Im Arbeitskontext kann der Blick darauf, ob jemand männlich oder weiblich ist, hilfreich sein. Studien legen nahe, dass die Stressverarbeitung bei Männern und Frauen statistisch betrachtet unterschiedlich abläuft und dass das zu einem unterschiedlichen Stresserleben und auch einer unterschiedlichen Bewältigungsneigung führt, sie folglich anders mit Stress umgehen.

Im Stressreport der Techniker Krankenkasse 2021 sehen wir, dass Frauen immer noch deutlich häufiger in extremen Stresssituationen psychosoziale Unterstützungsangebote in Anspruch nehmen. Das bedeutet, dass wir Unternehmen dahin gehend beraten, speziell Männer mit Unterstützungsangeboten zu erreichen, wenn sie beispielsweise bei uns die Mitarbeitenden-Unterstützungshotline eingekauft haben. Im gleichen Report sehen wir auch, dass für Frauen die zweitgrößte Stressquelle „die hohen Ansprüche an mich selbst“ sind. Das lässt Querverbindungen zu bekannten Themen wie Mental Load im Arbeitskontext ziehen. Dazu gibt es erste Studien, die interessante Impulse versprechen.

Gender, Stress, psychische Belastung AdobeStock / contrastwerkstatt

Mental-Load-Gap meint im Arbeitskontext: Wer übernimmt in Teams die unsichtbaren Aufgaben, wer fühlt sich für den Zusammenhalt und die Stimmung verantwortlich? Das Jubiläum, die bestandene Ausbildung oder den bevorstehenden Ruhestand der Kolleg:innen: Wer hat das rechtzeitig auf dem Schirm? Wer kümmert sich um Getränke fürs Meeting, um Geburtstagsgeschenke und frische Blumen auf dem Tisch? Wir wissen, dass das häufig die Frauen sind. Spannende Fragen könnten sein: Werden solche Beiträge von den Beteiligten angemessen gewürdigt? Und wer trägt die Verantwortung dafür, dass sie im Team gerechter verteilt werden? Hier sehe ich die Möglichkeit, die Führungskräfte gezielt darin zu schulen, eine gerechtere Rollen- und Aufgabenverteilung zu fördern.

Jede:r kann seine oder ihre Stressverarbeitung verbessern. Individuelle Bewältigungsstrategien sind zu einem großen Teil erlernt und somit veränderbar. Hier sollte jede:r neue Strategien entdecken und für sich ausprobieren. Die Studienlage legt jedoch nahe, dass Männer statistisch gesehen das Problem aktiver angehen, indem sie durch Recherchen oder konkrete Handlungen entsprechende Lösungen suchen. In Unternehmen könnte man Frauen mit diesen Strategien konkreter ansprechen, um neue Wege aufzuzeigen.

Individuelle Bewältigungsstrategien sind veränderbar.

Julia Hodgson-Kastien

Psychologin ias-Gruppe

Dieser Text ist in dem ias-Kundenmagazin impulse erschienen, das Sie als ePaper abonnieren können.

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