Mentale Gesundheit wird für Unternehmen und Arbeitnehmende zunehmend zum Erfolgsfaktor. ias-Psychologin Janina Klinger erklärt im Interview, wie Mitarbeitende, die unter mentalen Belastungen leiden, von psychischer „Erste Hilfe“ durch ausgebildete Kolleg:innen profitieren und wieso Arbeitgebende durch das Angebot ein starkes Signal senden.
Unter Stress am Arbeitsplatz versteht jede:r etwas anderes: die nächste Deadline, mehrere parallel zu bearbeitende Projekte oder die Einarbeitung in neue Technologien. Ebenso können Erkrankungen oder private Krisen Betroffene mental stark belasten und die Arbeitsfähigkeit kurz- oder langfristig beeinträchtigen. So unterschiedlich die Auslöser für beruflich bedingten Stress auch sind, eines haben sie gemeinsam: sie verursachen Druck, Unwohlsein oder womöglich sogar Überforderung – und wirken sich negativ auf die mentale Gesundheit der Betroffenen aus.
Vielen Menschen fällt es in herausfordernden Situationen allerdings schwer, nach Hilfe zu fragen oder bestehende Angebote in Anspruch zu nehmen. Wer gibt schon gerne zu, überfordert, hilflos oder verzweifelt zu sein? Dabei ist genau ein solches Eingeständnis, adressiert an sich selbst, der erste Schritt, um sein eigenes Wohlbefinden zu verbessern. Die ias-Gruppe setzt an diesem Punkt an und bildet engagierte Mitarbeitende zu kollegialen, psychologischen Vertrauenspersonen aus. Wer Bedarf hat, kann sich in belastenden Situationen an diese Peers innerhalb des eigenen Unternehmens wenden. Die ausgebildeten Kolleg:innen unterstützen Betroffene, hören zu und sind in der Lage, Orientierung zu geben. „Die kollegialen, psychologischen Vertrauenspersonen werden zwar nicht therapeutisch tätig, lernen aber, wie sie Gespräche in belastenden Situationen führen und mit akuten Belastungen ihrer Gesprächspartner:innen umgehen sollten, um diesen eine Art „Erste Hilfe“ zu bieten“, erklärt Janina Klinger.
Die Arbeitspsychologin ist bundesweit eine von drei Fachleiter:innen des Bereichs Psychologie der ias AG. Sie betreut gemeinsam mit ihren Kolleg:innen Unternehmen, die die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeitenden aktiv fördern möchten. Im Interview erklärt sie: Wie profitieren Arbeitgebende und Arbeitnehmende von der Qualifizierung zu psychologischen Vertrauenspersonen – und wer ist für die Ausbildung geeignet?
Frau Klinger, warum nimmt die mentale Gesundheit im modernen Arbeitskontext einen immer größeren Stellenwert ein – und welche Faktoren beeinflussen sie heutzutage am meisten?
In den letzten Jahren hat die Arbeitswelt einen massiven Wandel erlebt. Digitale Informationsflut, New Work als Megatrend, ständige Erreichbarkeit, Veränderungsgeschwindigkeit und hohe Leistungsanforderungen sorgen dafür, dass psychische Belastungen gestiegen sind. Gleichzeitig ist die Sensibilität für mentale Gesundheit gewachsen. Gesellschaftlich wird mehr über psychische Gesundheit gesprochen, wodurch Akzeptanz und Bewusstsein steigen. Und nicht zuletzt erkennen Unternehmen zunehmend, dass gesunde Mitarbeitende entscheidend für Motivation, Produktivität und Bindung sind.
Häufig ist es eine Kombination aus mehreren Faktoren, die psychische Belastungen verschiedener Art auslöst.
Häufig ist es dann aber eine Kombination aus mehreren Faktoren, die psychische Belastungen verschiedener Art auslöst. Beispielsweise können eine hohe Arbeitsdichte, fehlende Pausen und unklare Rollen zu Überforderung führen, während mangelndes Feedback, fehlende Wertschätzung und geringe Handlungsspielräume für Unzufriedenheit sorgen. Passt die Arbeitsumgebung, also etwa ein Großraumbüro, Remote Work oder soziale Isolation im Homeoffice, nicht zu individuellen Anforderungen oder Vorlieben, kann dies zu Unproduktivität und auch zu Unzufriedenheit führen. Ebenso ist ganz allgemein der Veränderungsdruck durch Umstrukturierungen, Kostenreduktion und unsichere Zukunftsperspektiven nicht zu unterschätzen.
Welche Vorteile hat die Ausbildung psychologischer Vertrauenspersonen für Unternehmen und Mitarbeitende?
Unternehmen schaffen damit eine wichtige erste Anlaufstelle. Für die Mitarbeitenden bedeutet das: Sie haben eine vertrauliche, niedrigschwellige Möglichkeit, kollegiale Unterstützung zu erhalten – noch bevor Probleme chronisch werden. Für Unternehmen bedeutet es: weniger Ausfallzeiten, ein besseres Betriebsklima und eine Kultur, die zeigt, dass mentale Gesundheit ernst genommen wird.
Wo beginnt und wo endet psychische Erste Hilfe?
Sie beginnt bei einem zuhörenden, stützenden Gespräch und in dessen Rahmen mit der Erkennung von Belastungen und der Vermittlung von Hilfe. Sie endet dort, wo diagnostische oder therapeutische Maßnahmen nötig sind.
Wer eignet sich besonders für die Ausbildung und wie ist sie aufgebaut?
Die Ausbildung ist ein Angebot an Kolleg:innen, die empathisch sind, gut zuhören können und Verschwiegenheit wahren. Sie sollten keine Scheu vor schwierigen Themen haben, gleichzeitig aber ihre Rolle und ihre Grenzen klar kennen – sie sind kollegiale Ansprechpersonen, keine Therapeut:innen. Zudem sollten sie über ausreichend eigene psychische Stabilität verfügen, um in belastenden Situationen handlungsfähig zu bleiben. Führungskräfte kommen infrage, sollten aber sorgfältig ausgewählt werden, um Rollenkonflikte zu vermeiden.
Im Rahmen der Ausbildung kombinieren wir Theorie und Praxis. Dazu gehören Grundlagen zu psychischen Belastungen und Beschwerdebildern, Gesprächsführung, Abgrenzung zur Therapie, Wissen über interne und externe Hilfsangebote sowie Selbstfürsorge bzw. Psychohygiene. Praktische Übungen, Fallbeispiele und Rollenspiele sind ebenfalls ein zentraler Bestandteil, um Sicherheit im Umgang mit belasteten Kolleg:innen zu gewinnen.
Es ist wichtig, dass Kolleg:innen wissen: Hier wird nicht bewertet, sondern zugehört.
Wie können kollegiale Vertrauenspersonen Hemmschwellen von Mitarbeitenden, die unter einer mentalen Belastung leiden, überwinden?
Durch absolute Diskretion, Transparenz und klare Kommunikation der eigenen Rolle ebenso wie ein offenes, wertschätzendes Gesprächsangebot. Es ist wichtig, dass Kolleg:innen wissen: Hier wird nicht bewertet, sondern zugehört. Gespräche finden in einem geschützten Rahmen statt. Des Weiteren hilft ein niederschwelliger Zugang: kurze Gespräche, eine offene Tür und keine Dokumentationspflicht.
Gibt es Beispiele oder Erfolgsmodelle aus anderen Ländern?
Australien und Kanada sind hier Vorreiter. Dort ist „Mental Health First Aid“ in vielen Unternehmen Standard. Studien zeigen, dass sich dadurch die Stigmatisierung psychischer Probleme reduziert und Beschäftigte deutlich häufiger frühzeitig Hilfe suchen – ein enormer Gewinn für alle Beteiligten.