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Digitalisierung: Gesunde Führung trotz E-Mail-Flut

Wissenschaft trifft Praxis: In einer neuen Studie konnte Frau Prof. Laura Venz zeigen, was viele bereits ahnten: Wer mehr Mails bearbeitet, kommt Führungsaufgaben nicht mehr nach. Mit Oliver Meltz, Kompetenzfeldleiter Psychologie der ias-Gruppe, haben wir uns zusammengesetzt und sie gefragt, was man dagegen unternehmen kann.

Arbeit & Gesundheit

Frau lehnt sich an Schreibtisch zurück
Prof. Laura Venz

Gesunde Führung ist ohne gesunde Führungskräfte nicht möglich.

Prof. Laura Venz,

Prof. Laura Venz, Arbeits- und Organisationspsychologin, Leuphana Universität Lüneburg

Was hat die Anzahl der E-Mails mit Führungsverhalten zu tun? Wie hat die Coronapandemie sich darauf ausgewirkt?

Meltz: Die Anzahl von E-Mails kann, je nach Kommunikationskultur, durchaus auch als Maß für die Menge an Arbeit angesehen werden. Die wenigsten Führungskräfte haben ausschließlich Führungsaufgaben. Das bedeutet, Führungskräfte sind - wie ihre Mitarbeitenden auch - selbst in die operative Abarbeitung von Aufgaben eingebunden, oder sie haben die Verantwortung für Projekt- und Sonderaufgaben.

Je mehr zusätzliche Aufgaben anstehen, desto weniger Zeit bleibt für Führung. Wenn nur ein begrenztes Zeitfenster für Führungsaufgaben bleibt, dann müssen in diesem auch Tätigkeiten wie das Abzeichnen von Urlaubsanträgen und das Bearbeiten von Krankmeldungen erledigt werden. Das Motivieren und Begeistern der eigenen Mitarbeitenden wird hingegen nicht direkt getrackt und hat keine formale Deadline. Motivieren „im Vorbeigehen“ mag gelingen, wenn das gesamte Team an einem Ort ist – bei virtueller Zusammenarbeit braucht es andere Wege. 

Venz: Im Rahmen der Coronapandemie haben viele Führungskräfte weniger Zeit für ihre Aufgaben und müssen immer mehr Dinge gleichzeitig machen. Wir haben herausgefunden, dass Führungskräfte desto weniger transformational führen, je mehr E-Mails sie bearbeiten (müssen). Wir konnten außerdem aufzeigen, dass eine höhere tagesspezifisch wahrgenommene E-Mail-Überlastung mit einer höheren Erschöpfung der Führungskräfte am Ende ihres Arbeitstages in Zusammenhang steht. Die Studie* zeigt also, dass eine Zunahme an E-Mail-Kommunikation (die durch die Coronapandemie bei vielen verstärkt wurde) mit weniger positiven Führungsverhaltensweisen und schlechterem Wohlbefinden von Führungskräften assoziiert ist.

Transformationale Führung

Transformationale Führung bezeichnet ein Führungsverhalten, in dem die Führungskraft die Mitarbeitenden individuell unterstützt und durch ihr eigenes Verhalten als Vorbild fungiert und die Mitarbeitenden motiviert, sich für die Ziele des Teams bzw. der Organisation einzusetzen. Transformationales Führungsverhalten ist wissenschaftlich gesehen „gute“, wünschenswerte Führung. Transformationale Führung steht mit Leistung, Zufriedenheit, Engagement, Commitment und Wohlbefinden der Mitarbeitenden in positivem Zusammenhang.

Ist das beobachtete Verhalten krisenabhängig?

Venz: Nein. Auch Führungskräfte, die unabhängig von der Coronakrise ein hohes E-Mail-Aufkommen berichten bzw. sich durch E-Mail überlastet fühlen, zeigen weniger transformationale Führung und höhere Erschöpfung. Die E-Mail-Nutzung selbst wird aber durch die Digitalisierung der Arbeitswelt befeuert und die Coronakrise kann durchaus als Digitalisierungs-Booster betrachtet werden. Eine fortschreitende Intensivierung der Arbeit ist also grundsätzlich problematisch. Zudem ist gute (transformationale) Führung gerade in Krisenzeiten besonders wichtig.

Oliver Meltz

Eine Führungskraft, die von der E-Mail-Flut überrollt wird und für ihre Mitarbeiter nicht „erlebbar“ ist, kann nicht als Vorbild fungieren, kann nicht begeistern und motivieren.

Oliver Meltz

Oliver Meltz, Kompetenzfeldleiter Psychologie, ias Aktiengesellschaft

Wieso ist es vor allem beim Thema Führung relevant, sich das Thema digitale Überforderung anzuschauen?

Venz: Weil Führungskräfte eine zentrale Rolle für das Funktionieren der Organisation einnehmen: Im Rahmen der Personalführung haben Sie Verantwortung für ihre Mitarbeitenden, deren Leistung(sfähigkeit) und Wohlbefinden, gleichzeitig sind sie aber selbst auch Mitglieder der Organisation, deren eigene Leistung(sfähigkeit) und Wohlbefinden schützenswert sind. Gesunde Führung ist ohne gesunde Führungskräfte nicht möglich – und in Zeiten der Digitalisierung spielen E-Mail, Videocall und Co eine zentrale Rolle im Kontext von beruflicher Gesundheit und Wohlbefinden.

Meltz: Führen heißt zu einem bedeutenden Anteil Organisieren und Kommunizieren. Somit sind Führungskräfte besonders betroffen, wenn die Kanäle zur Arbeitsorganisation und Kommunikation sich durch die Digitalisierung verändern.

Zur Führungsverantwortung gehört auch, effektive und möglichst wenig belastende Prozesse der digitalen Zusammenarbeit und Kommunikation für die Beschäftigten herbeizuführen. Zu bevorzugen sind bereichsübergreifende, möglichst einheitliche Lösungen, um ständige Umstellungen zu vermeiden.

 

Was können betroffene Führungskräfte tun?

  • Realistische Bestandsaufnahme: Wie viel Zeit verwende ich jeweils für operative Aufgaben, Projekt- und Sonderaufgaben, bürokratische Tätigkeiten aufgrund der Vorgesetztenfunktion, transformationale Führung.
  • Abgleich des Status quo mit dem Zielbild in der Organisation (sofern vorhanden), den Bedürfnissen des Umfelds und den eigenen Ansprüchen.
  • Einsetzen für effektive Abläufe und Kommunikation, Zeit nehmen für transformationale Führung, ggf. Unterstützung durch z.B. individuelles Coaching nutzen.

Was kann eine Organisation tun?

  • Geeignete Tools für alle regelmäßig anfallenden Arbeits-, Organisations- und Kommunikationsaufgaben bereitstellen. Hierbei die Erfordernisse virtueller Zusammenarbeit berücksichtigen.
  • Erarbeitung von Guidelines zum Einsatz der vorhandenen Kommunikationstools. Organisationsweite Lösungen sind deutlich zu bevorzugen, um Medienbrüche zu verhindern.
  • Angebot von Trainings und ggf. individuellen Unterstützungsmöglichkeiten zum Umgang mit digitalen Technologien. Dies ist besonders relevant, wenn komplexere Kommunikationstools mit neuen Möglichkeiten eingeführt werden.

*Venz, L., & Boettcher, K. (2021). Leading in times of crisis: How perceived COVID-19 related work intensification links to daily e-mail demands and leader outcomes. Applied Psychology: An International Review. Advance online publication. doi.org/10.1111/apps.12357

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